Jahr: 2003
Autor/in: Karl Stepanek
Titel: Die Einladung

Ich kenne Dich noch gar nicht so lange.
Wir haben uns bis jetzt erst einige Male – und dann auch meist nur in Gesellschaft – gesehen.
Eines Tages hast Du mich ganz einfach eingeladen.
Du hättest eine außergewöhnliche Speise. Es wäre eine Art „Trockenfutter“, wie Du es nanntest.
Wenn man es mit etwas Wasser aufkocht, würde eine köstliche Paella daraus entstehen.
Halbfertiggerichte dieser Art hatten in den 70er Jahren noch keinen „Fast Food“-Charakter,
sie galten als exotisch und interessant.

Jetzt bin ich auf dem Weg zu Dir.
Ich weiß noch sehr wenig über Dich.
Gerade wie Du heißt,
wie alt Du bist,
wo Du wohnst, ... oh! ... jetzt stehe ich vor dem Haus
und habe den Stock und die Türnummer vergessen.
Eine Sprechanlage oder eine Parteienübersicht gibt es in dem Altbau nicht.
Im Erdgeschoß treffe ich die jugoslawische Hausbesorgerin – meine Rettung.
Ja – 3. Stock – links hinten – vielen Dank!

„Grüß' Dich!“
„Wie geht's?“
„Danke, und Dir?“
„Danke ...“
„Hast Du schon Hunger?“
„Ich könnt' schon was vertragen ...“
„Oh, die Zubereitung ist nur in Englisch beschrieben.“
„Ich denke, das werden wir hinkriegen.“
„Wieviel Wasser muss man zusetzen?“
„Einen >Pint<“
„Wie bitte?“
„Hier steht >1 Pint<“
„Und? – Was heißt das?“
„Hast Du ein Englisch-Wörterbuch?“
„Ja!“
„Schaust Du mal nach?“
„o.k. – Pint ... Pint ... hier: Pint bedeutet >Schoppen<.“
„Ha, ha - na super, jetzt ist ja alles klar!?“
„He – hast Du gelesen, was da noch alles drinnen ist?
Zum Beispiel: „Pre – ser – va – ti – ve !?“
*)
*) damit war das Konservierungsmittel gemeint („Schutz“)
„Sehr merkwürdig – das kann man wirklich alles essen? ...“
Wortspiele und Späße werden getauscht.
Die Speise nimmt essbare Formen an.

„Es ist soweit, komm zu Tisch!“
„Schmeckt es Dir?“
„Sehr gut, fast wie in Spanien!“

„Ich habe etwas Musik mitgebracht – magst Du?“
„Ja, schön – ich habe auch etwas – Platten!“

Die Tonträger sind in dieser Zeit Scheiben aus Vinyl
und Bänder aus Polyester oder PVC auf Spulen gewickelt.
Du legst eine Single auf: Filmmusik aus Mercenario, dann „Wigwam“ von Bob Dylan.
Ich lege ein Band ein mit Liedern von Dean Martin und anderen Schmeichelstimmen.
Trotz eineinhalb Stunden Spielzeit – viel zu kurz ...

Wir sitzen auf der Couch –
Es knistert ...
Ich habe den Eindruck, dass dies nicht nur von der Musikkonserve kommt.

Ich könnte heute noch den Schnitt deines fliederfarbenen Kleides genau nachzeichnen –
Du bist schön –
Wir sehen einander lange in die Augen –
Die Musik ist schon wieder aus! – Wie gibt’s das?
Irgendwann achten wir nicht mehr auf die Musik –
Wir berühren einander behutsam –
Die akustischen Reize überblenden sich stufenlos mit anderen, neuen, aufregenden ...

Du wirst noch schöner –
Du duftest gut ...
Wir befinden uns kurz vor dem Abheben!
Der „Point Of No Return“ wird gerade überschritten.
Du sprichst von einem „Hochschaubahn-Gefühl“.
Es macht sich eine unbändige Lust breit – so intensiv – so gut –
Ich habe keine Bedenken,
Ich habe keine Angst,
Ich lasse keine Vorsicht walten,
Das war vorher noch nie so ...
Ich verspüre nur Zärtlichkeit im Überfluss!
Ich habe keine Ahnung, wie lange das dauert.
Zeitlosigkeit macht sich breit.

Irgendwann in dieser Nacht lösen wir langsam unsere Umarmung.
Zaghaft versucht die Realität, uns zurückzuholen.

Ich denke, es ist so ca. 3, ½ 4 Uhr früh.
Ich adjustiere mich zum Gehen.
„Was hast Du vor? Du bist verrückt – nein, das kannst Du jetzt nicht machen – nicht um diese Zeit!“
„Lass mich doch, bitte, ich komme gleich wieder zurück, es ist o.k.!“

Ich verlasse das Haus, gehe eine Gasse nach vor, bis zur Telefonzelle.
Ich wähle – die besorgte Schwingung in der Stimme
am anderen Ende der Leitung ist mir wohl bekannt.
„Hallo Mama? Du, ich möchte Dir nur sagen, ich komme erst am Vormittag heim ...“