Jahr: 2011
Autor/in: Lisa Werstatt
Titel: Ein Buch ohne Titel und Autor
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Endlich war einer dieser langen trostlosen Tage zu Ende, dachte ich, und auch der gerade begonnene Abend sowie die folgende Nacht würden sich auch endlos dahinziehen, bis es wieder Morgen wurde. „Bist daran selber schuld, dass es so ist“, hörte ich eine Stimme sagen. Erstaunt sah ich mich um, aber außer mir war niemand im Zimmer. So ging ich nun durch alle Räume der Wohnung, auch die Eingangstüre war verschlossen, als ich nachsah, es war niemand hier, nur ich alleine. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet, diese Stimme zu hören, sinnierte ich weiter, aber dass ich selber schuld sei, ließ mich nicht zur Ruhe kommen, denn die Stimme hatte recht. Ich ließ den Tag und auch die Nacht dahinschleifen, anstatt es zu ändern. Ich stellte nun Überlegungen darüber an, wie ich diesen Zustand ändern könnte, hätte ja die ganze Nacht Zeit dazu. Nun stand ich da, irgendwie verloren, in dem riesigen Buchladen, um mir Bücher zu besorgen, diese Idee war das Resultat meiner Überlegungen von heute Nacht. Langsam trat ich an eine der vielen Bücherwände, erblickte die endlosen Reihen an Büchern, und mir wurde auf einmal bewusst, dass ich nach einem bestimmten Buch suchte, obwohl ich weder den Titel noch das Aussehen des Buches kannte, aber da war diese innerliche Sicherheit in mir, dass ich das gesuchte Buch hier finden würde. So schritt ich eine Bücherwand nach der anderen ab, ließ meine Augen über die unzähligen Bücher gleiten, aber das Buch, welches ich suchte, war nicht dabei. Als ich mich so umschaute im Buchladen, entdeckte ich einen Tisch, auf dem verstreut Bücher lagen, darüber ein Schild worauf „Abverkauf“ stand. Es zog mich nun wie magisch zu diesem Büchertisch, und als ich davor stand, nahm ich eines der Bücher, die dort lagen, in die Hand. Nein, es war nicht, welches ich suchte, legte es wieder zurück, schloss nun die Augen und ließ meine Hand über die Bücher gleiten. Da hörte ich eine Stimme, die zu mir sagte: "Das ist das Buch, das du suchst", und spürte, wie mir etwas in die Hand gedrückt wurde. Sofort öffnete ich die Augen, aber da war niemand, nur ich, ein Buch in der Hand haltend. Ich war mir ganz sicher, das war dieselbe Stimme von gestern gewesen, und ich habe das Buch, das ich gesucht hatte, gefunden, dank der Hilfe der Stimme. Schnell ging ich zur Kassa, um zu bezahlen, denn jetzt hatte ich es eilig, nach Hause zu kommen, wollte ich doch so bald als möglich zum Lesen anfangen, in dem innerlich von mir gesuchten Buch. Endlich, ich saß in meiner Lieblingskuschelecke auf der Couch und betrachtete das Buch nun in Ruhe und aufmerksam. Mir fiel sofort auf, auf dem Buch stand kein Titel, auch kein Autor, es war in einen braunen Ledereinband gebunden, darauf etwas wie Hieroglyphen eingekerbt. Vorsichtig öffnete ich das Buch … sah mich selbst bei einem alten Mann am Lagerfeuer sitzen und fragen: „Bitte, nenne mir das Geheimnis dieses Buches.“ Der alte Mann sprach: „Psst, sei still ... und lass dir von dem Buch seine Geheimnisse erzählen.“ Da war sie wieder, die Stimme, die ich gestern und heute gehört hatte, aufmerksam betrachtete ich sein Gesicht, sah die tiefen Falten um die Augen, aber auch die Güte, die daraus strahlte. „Danke“, hörte ich mich sagen, und wollte seine Hand ergreifen, aber ich griff ins Leere, noch immer auf der Couch sitzend.

Nun blätterte ich zur nächsten Seite … da stand ich an einem weißen Sandstrand, halb umgeben von grau glitzernden Steinfelsen, als würden sie mich beschützen, aber mir den Blick ins Landesinnere verwehren. Vor mir lag das weite, in der Sonne türkis glänzende Meer, das mit sanften Wellen meine Füße umspülte. Ich entledigte mich meiner Kleider und ging langsamen Schrittes dem Meer entgegen, um immer weiter darin einzutauchen. Als ich keinen Grund mehr unter den Füßen spürte, legte ich mich auf den Rücken und ließ mich mit geschlossenen Augen vom Meer mit weit ausgestreckten Händen tragen. Sanft schaukelte ich auf den Wellen hin und her, die Sonne auf der Haut spürend und die Ruhe, die mich umgab, auch die Geborgenheit, die ich empfand. Stundenlang könnte ich so dahin treiben, einfach gedankenlos so dahin treiben… Ein dumpfer Ton schreckte mich auf und als ich die Augen aufmachte, saß ich noch immer auf der Couch, eine leichte Salzkruste auf der Haut spürend, mit nassen Haaren, aber meine Kleidung war trocken. Das Buch lag am Boden vor der Couch, es dürfte mir aus der Hand gefallen sein. Noch ganz verwundert über das eben Erlebte, bückte ich mich nach dem Buch, um es aufzuheben. Sachte legte ich es in meinen Schoß und öffnete es erneut, hoffte, und wollte ich doch wieder zu diesem Sandstrand gelangen. Doch ich schaute nur auf eine leere Seite, es stand weder etwas Geschriebenes dort, noch gab es eine Zeichnung oder sonst etwas. Ungläubig schüttelte ich den Kopf, machte mehrmals meine Augen auf und zu, aber die Seite blieb leer. Vorsichtig fuhr ich mit der rechten Hand über die leere Seite … es war, wie wenn wer meine Hand in das Buch zog, dann den Arm, dann mich als Ganzes, bis ich in einer Grotte stand, in der sich von oben eigenartige Lichtstrahlen im See, der sich in der Grotte befand, spiegelten. Leise Musik fing zu spielen an, und die Lichtstrahlen begannen sich im Takt dazu zu drehen und hatten nun die diversen Spektralfarben, die ständig wechselten. Ich war wie gebannt von diesem Schauspiel, wiegte mich, wie ich bemerkte, auch im Takt der Musik. Die Lichtstrahlen tanzten näher an mich heran, und ohne dass ich was tat, gingen meine Hände hoch, um diese zu berühren. Nun tanzten die Lichtstrahlen einen Reigen auf meinen Handflächen, den schönsten, den ich jemals gesehen hatte … Plötzlich umfing mich Dunkelheit, saß ich doch noch immer in meiner Kuschelecke auf der Couch. Das Buch hielt ich geschlossen in meinen Händen. Bedächtig legte ich es neben mir auf den Tisch, stand auf und drehte das Licht auf, um meine Hände betrachten zu können. Sie waren unverändert, doch in meinen Gedanken tanzten die Lichterstrahlen wieder ihren Reigen darauf. Welch wunderbare Erlebnisse waren meine Gedanken, dank des Buches. Der Sandstrand, das Baden im Meer, noch immer fühlte ich das Salz auf meiner Haut, den Lichterstrahlenreigen auf meinen Händen. Was es wohl noch so alles in sich verborgen hält, das Buch, fragte ich mich. Irgendwie fühlte ich, für heute war es genug, denn es war ein unendliches Glücklich sein in mir. Ein anderes Mal, wenn der richtige Augenblick da ist, werde ich wieder dieses Buch öffnen …