Jahr: 2017
Autor/in: Estina Gugubauer
Titel: Erkenntnis
Mehr dazu: literatur-reports/401-2017-12-literaturpreis

Wieso?
Wieso hast du mich verlassen?
Was habe ich falsch gemacht, dass du mich nun alleine lässt?
Etwas zieht sich in meiner Magengegend zusammen, es schnürt mir die Luft ab.
Ich keuche auf und fange an zu husten. Meine Verzweiflung ist so groß, dass ich diesem Gefühl nicht entgegentreten kann. Es zerdrückt mich regelrecht und zerstört mich, bis ich einsam und verletzt zurückbleibe.
Wieso?

Sie war meine beste Freundin. Niemand konnte uns trennen, denn ich war die Einzige, die sie sehen konnte. Wir spielten jeden Tag zusammen und erfreuten uns an der Anwesenheit der jeweils anderen. Niemand konnte mich besser verstehen als sie.
Sie war nicht nur „wie“ ich. Sie war ich. Obwohl ich sie sehen und angreifen konnte, kam es mir so vor, als würde ich in mein Spiegelbild schauen, und sie stünde in Wirklichkeit gar nicht hier. Sie sah haargenau wie ich aus. Ihre mittelbraunen Haare lagen in leichten Wellen über ihren Schultern, und sie schaute mich mit diesen grünen Augen an, die vor Freude immer glitzerten. Sie war eine Schöpfung meiner selbst. Manchmal, wenn ich in den Spiegel schaute, fragte ich mich, ob ich wirklich ich war. Denn oftmals glaubte ich, dass ich sie sei und sie ich. Es gab auch diese Momente in denen ich sie und mich als wir sah.
Umso bewusster wurde der Schmerz, als ich bemerkte, dass sie mir entzogen wurde.
Ja, regelrecht entrissen. Ein dunkler Schatten, der sich über mich legte, als sie vollends weg war.

Ich habe sogar Angst, dass ich der Grund war, weshalb sie verschwand. Womöglich hatte ich sie von mir gestoßen.
Ich bin meine eigene Verderbnis.
Diese Einsamkeit, die mich um den Verstand bringt, während die vergossenen Tränen anfangen auf meinem Gesicht zu trocknen.
Die Stille die alles verstummen lässt, und es fühlt sich so an als würde die Zeit im Raum stehen bleiben.
Bis du bemerkst, dass der Raum kein Raum ist und die Zeit keine Zeit.
Wieso?

Gefühlte Jahrzehnte vergingen, bis ich begriff, dass sie von alleine gegangen war. Keine Krafteinwirkung uns zerrissen hatte. Doch auch das war nicht die Wahrheit. Sie ging nie fort - war nie weg.
Die Antwort war die ganze Zeit ganz tief in mir. Ich hatte in diesem Moment nichts gesehen. Versuchte nur mit meinen Augen etwas zu erblicken. Konnte doch mehr spüren, als ich die Augen schloss.
Ich fühlte etwas.